15 Juni 2011

Freiheit im 5-Seen-Land

Nach acht Tagen daheim schreckte mich schon ein Alptraum auf: Die Firma meinte, dass ich noch bis September weiter arbeiten müsse! Die Frau kam müde von der Arbeit und moserte: "Musst Du Deine Schuhe immer dorthin stellen, wo meine stehen?" Da war mir klar: Es wird wieder Zeit! Auf! Auf! Auf in die Wälder!

428 Kilometer 11,38 Liter/100 km entspricht Rentner-Ruhe:-)



München ist schön, wunderschön. Du findest dort wohl alles, was das Herz begehrt. Aber eine kurze Autostunde auf der BAB Richtung Garmisch begeistert das bayerische Oberland. Im sprichwörtlichen blau-weißen Himmel schwimmen anfangs Wolken, die sich später auftürmen. Vielleicht entladen diese dann dicken, grauen Wolken ihre nasse Fracht als Gewitter.

Das Thema - meint mein Freund - ist verfehlt. Es müsste besser lauten "Freiheit ab dem 5-Seen-Land". Denn dann liegt München mit der Dauer-Stau-Baustelle Mittlerer Ring mit dem Luise Kisselbach-Platz hinter mir, die Autobahn Garmisch führt mich näher und näher an die geliebten "Großen Berge". Dort lebt das Innere Kind ebenso auf wie das Tier in mir.

Doch nun soll mein Freund die Fakten erinnern: "Die Bezeichnung 5-Seen-Land bezieht sich auf Starnberger See, Ammersee, Wörth-, Pilsen- und Weßlinger See.

Ansonsten wäre 5 etwas wenig. Denn da sind ferner Maisinger See, Ostersee(n), Staffelsee, Riegsee, Kochel- und Walchensee, Sylvensteinsee, Kirchsee, Tegernsee, Schliersee, Spitzingsee, Seehamer See, um nur mal einige südlich von München zu nennen. Von den zahllosen kleinen Seen und Weihern wie z.B. Deiniger Weiher, Thanninger Weiher, Ascholdinger Weiher, Ickinger Stausee, Bibisee, Hackensee ganz zu schweigen, um ein paar dieser zahllosen Weiher und Kleinseen zu nennen, die häufig dadurch entstanden sind, daß ein Bach aufgestaut wurde. Der berühmte Eibsee darf natürlich nicht fehlen.

Mehr im Westen finden sich der Forggensee und zahlreiche weitere Lechstauseen und der Alpsee mit dem Schloß Hohenschwangau und Linderhof. Mehr im Osten der Chiemsee und diverse weitere Seen in dem Gebiet. Im benachbarten Österreich geht es gleich weiter mit Seen, mit dem malerischen Plansee z.B. oder dem beeindruckenden Achensee, bei dem allerdings die österreichische Fremdenverkehrsfolklore zum Teil groteske Blüten treibt."


Zurück zu meiner Freiheit also ab dem 5-Seen-Land: Erstmal ist es noch heiß, jedenfalls zu heiß, um weit zu fahren. In Schlehdorf, einem alten Fischernest am Kochelsee mit Kloster, ladet der Holzplatz direkt am See zur Pause. Das Wasser ist noch vielmals kälter als in den Münchener Seen, die wie eine Perlenkette sich um den dicken Bauch der Stadt schmiegen: Feringasee, Heimstetter See, Unterföhringer-, Unterschleißheimer-, Feldmochinger-See, Ruderregattastrecken-See. Schon dort finden viele Menschen Erholung.


Wer die Einsamkeit mag, verlässt die umtriebige Stadt. Am Kochelsee mischt sich in das Pfeifen der Vögel das gleichtönige Tuckern von ackernden Diesel-Treckern. Kuh- und Kirchenglocken klingen in dem Idyll. Doch die Stille bleibt so beschaulich, dass die klappernden Tasten wie das leichte Surren des Kühlschrank-Ventilators nicht verborgen bleiben. Der Sommer fängt an. Der Mais steht schon kniehoch. Die Seerosen auf dem Kochelsee leuchten wie in Signalfarbe. Die Baum bestanden Hänge und Hügel varieren das Grün in vielfältigen Tönen. Ein paar Fliegen zur Gesellschaft weichen den fangenden Fingern geschickt aus. Schmetterlinge fliegen wohl niemals in den Bus. Diese Stunden Landleben nannte man früher "Sommerfrische". Die bringt Abstand zum Zeitgeschehen.


Der SPIEGEL würdigt das "70jährige Jubiläum" Hitlers Krieg gegen Stalin mit dem Titel: "Bruder Todfeind". Die DVD mit einem Film zum Thema ist sehenswert. Harald Welzer, der in seinem Buch "Klimakriege" schon erschreckend einleuchtend aufweist, "wofür im 21. Jahrhunder getötet wird", weiß mit ähnlich schrecklich einleuchtenden Argumenten, wie Hitler mit seinen Generälen und diese mit ihren Offizieren, die Mannschaften und Menschen in diesen Mordmechanismus zwangsläufig getrieben haben. Die friedliche Sommerlandschaft nimmt der Lektüre den in uns schlummernden Schrecken, sich allzu schnell in menschliche Mordmaschinen zu wandeln. Gottlob halten uns hierzulande derzeit zivilisatorische Zwängen im Zaum, obgleich schon Hunderte, wenn nicht tausende Bootflüchtlinge auf dem Mittelmeer daher ertrinken, weil die Festung Europa kaum Platz genug hat für das Elend in den eigenen Mauern.




Der Walchensee ist der schönste See für mich. Das grüne Wasser bleibt immer das Kälteste und Sauberste aller Seen. Das Wetter stürzt sehr schnell um. Eilig geht es dann zurück zum Auto: Regenschauer peitschen über das Dach und die dann schleunigst geschlossenen Luken. Die Sonnenmarkise sollte man zuvor einziehen. Anderfalls schleudern sie Windböen gegen das Auto.



Seit diesem Bild sind nun bald 15 Jahre vergangen. Mein Körper war dünner und drahtiger. Der VW-Bus in aller Bescheidenheit das Fahrzeug für den Weihnachtsmarkt meiner Frau war unser erstes Wohnmobil. In dem Boot sind wir auch über den Walchensee gepaddelt. Die Wolken waren schon dunkel. Der Wind beißend. Dann blinkten die gelben Sturmwarnlampen. Wir mussten aus der Richtung Einsiedl zurück zum Parkplatz in Richtung Urfeld. Der Wind peitschte uns Regen und Wellen entgegen. Meine Frau Mimamai wollte schon verzagen und aufgeben. Doch wir haben es doch noch zurück ins Auto geschafft. Nass zogen wir das Boot und uns in den Wagen. Wir fielen erschöpft im Auto übereinander und wärmten uns wie wilde Tiere. Die Fenster im Wagen waren sofort beschlagen. Glücklich und erschöpft fanden wir in kurzem Schlaf zurück zu unserer Kraft.

Heute hingegen: Mein gegen Sonne überempfindlicher Kopf hat die gestrige Hitze nicht heil überstanden. Wieder einer dieser fürchterlichen Sonnenstiche, der Zweite dies Jahr, der mir den Magen umdreht. Den Tag ständig im Schatten verdöst. Erst am Abend lassen die Kopfweh nach - endlich. Thomas Bernhard als Hörbuch unterhält mich mit seinem Ekel an sich und den Menschen. Sein Stück heißt "Beton".

Der Euro wackelt. Griechenland braucht die nächsten 100 Milliarden. Was, wenn nicht? Das Geld wird im Lande nach meiner mehr auf Mystik denn auf Fakten basierten Meinung, das Geld wird im Lande nicht so schnell knapp. Das Geld steht für mich synonym mit Gütern, die wir zum Leben hier brauchen. "Die Renten sind sicher." Und sei es auf dem Niveau öffentlicher Suppenküchen. Bislang wurden selbst Bettler im Land fett. Wer sein Leben auf kleiner Finanzflamme von der sozialen Seinsfürsorge fristet, sollte sich nicht mit billigen Verführungen wie Junk-Food, Alkohol, Medikamenten und sonstigen Drogen vergiften. Es ist erwiesen: Das "Prekariat", wer sich sozial zu der Schicht rechnen lassen muss, diese armen Menschen sterben zehn, zwanzig Jahre früher als Menschen der ernährungs- und gesundheitsbewußten "höheren Schichten".

Längst haben Medien, Junk-Food und unverantwortlich billige Drogen, vornehmlich Alkohol, die Funktion sozialer Seditativa übernommen. Zahllose Arbeitslose und Arbeitsunwillige in Reservaten und Ghettos zerstören sich und andere. Wie exponierte Trendsetter des Jet-Sets auf allen Kanälen und Bilderbogen-Medien die Gier nach Immer-Mehr anheizen, so fliegt der "Kleine Mann" nach "Ballermann", sich "voll die Kante zu geben." Wer kein Geld für Fernflüge hat, fliegt mit Schnaps aus dem Discounter vor dem Flachbildschirm ab.

Da sind selbst noch Übungssysteme von hergebrachten oder New-Age-Religionen noch heilsamer, um das selbstzerstörerische Potential von Gewalt, Gier und Genusssucht einzudämmen.

Wo die Chancen auf ein reicheres Leben für Millionen junger Menschen gänzlich desolat werden, rebellieren diese gegen die betonierten Machtstrukturen jahrzehntlanger Ausbeutung und Unterdrückung. Blut fließt auf den Straßen. Die Waffenverkäufer gewinnen daran. Der Gewinn des kollektiven Killings subventioniert hier im Land die Preise.

Das Gewitter über meinem Lieblingsstellplatz in Einsiedl am Walchensee wirft zuckende Blitze über die im Dämmern sich schaukelnden Fichten. Wer jetzt im Zelt sitzt, hat härtere Zeit.

Mir ist vollkommen schleierhaft, wie, wer oder was die beklagenswerten Verhältnisse sich ändern. Die Kunst radikalisiert sich seit Jahrzehnten. Selbst Udo Jürgens singt auf seine alten Tage im öffentlichen Rundfunk von unhaltbaren Verhältnissen. Kabarett, Komödianten lassen ihr Publikum über Zustände lachen, die zum Heulen sind.

Der Höhepunkt meiner einsamen Stunden sind die Anrufe meiner lieben Frau. Sie bietet mir den Ruhe-, Kraft- und Ankerpol in meinem Leben. Ihre Arbeitstage bewältigt sie klaglos, gerade wenn meine Hilfe daheim ihr fehlt.

Wen genug Geld trägt, der trägt daran, sein Alter zu tragen. Wer keine Schwierigkeiten mit Geld hat, bekommt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Schwierigkeiten mit seinem Körper. Denn dessen Ressourcen sind endlich. Wer nach dem Prinzip Dagobert lebt, stirbt mit dem Motto: "Spare bis zur Bahre!" Der billig spottende Reim vergisst leider nur, dass alle Dinge bei einer explodierenden Bevölkerung mittlerweile nur noch rationiert verteilt werden würden, wenn wir denn gerechter wirtschaften würden.

Nur ist das eben nicht der Fall. Wir leben kollektiv im Lande wie auf einer luxuriösen Insel, derweil in den Fluten des Elends weltweit Millionen verderben und sterben. Kein Mensch wird es ändern: Der Tod schafft Platz für das Leben. Der Mensch kann nicht wählen, weil das Schicksal bestimmt. Die Qual der Wahl: Mörder oder Märtyrer.



Diesen Freitag, den 17. Juni 2011, bestimmt mir das Schicksal einen wunderbaren Radausflug rund um den Walchensee.

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